Dienstag, Januar 10, 2006

Artikel aus der Zeitung "Bulgaria Goes West": Dort, wo Europa beginnt




Bulgaria Goes West

Deutsch-Bulgarische Zeitungswerkstatt in Berlin und Heppenheim (21 - 29. Okt. 2005)

Dort, wo Europa beginnt



Am Bahnhof herrscht wie immer ein reges Treiben. Menschen eilen von einem Gleis zum anderen und scheinen sehr beschäftigt. Es ist ein zeitloses Geschehen, denn die Tage am Bahnhof unterscheiden sich kaum voneinander. Jeden Tag kommen und gehen die verschiedensten Menschen und doch ist jeder Tag einmalig, denn keiner der Reisenden gleicht dem anderen. Auch ich bin in Eile, denn ich habe mich entschieden, auch zu reisen. Ich fühle mich großartig. Endlich raus aus der kleinen Stadt, in der sich ein Tag an den anderen reiht und nichts zu passieren scheint. Nur die Uhr tickt unermüdlich vor sich hin.

Der Bahnhof ist ein Tor, um in die Welt zu gelangen. Auch andere Menschen haben das begriffen und tragen ihre Koffer in neue Gegenden. Es ist Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass Menschen, die sich an einem Ort zusammengefunden haben, alle das Gleiche wollen: Reisen! Doch die Menschenmenge am Bahnhof ist sehr klein, bedenkt man, wie viele Menschen es auf der Welt gibt. Könnten die sich irgendwann einmal über eine Sache so einig werden?

Ich schaue auf das Gleis, das weit nach draußen führt und sich in der Unendlichkeit verliert. Daneben sind viele Lichter für den Zugverkehr, die aufgeregt blinken. Warum sind nur alle rot? Vor mir rollen viele Koffer, die von ihren Besitzern gezogen werden. Alle haben eine andere Form und jeder enthält etwas anderes, das bis ans Reiseziel getragen wird. Einer der Koffer zieht meinen Blick auf sich. Ein riesiger Aufkleber der europäischen Flagge schmückt den Kofferdeckel; kaum zu übersehen und doch von so vielen nicht beachtet. „Was ist schon Europa? – Hauptsache man kann es bereisen!“ Alle diese Menschen wollen durch das Bahnhofs-Tor; das etwas Neues verspricht. Das ist gewiss. Aber wissen sie auch, wohin genau ihr Weg dann führt? Wissen sie denn, was überhaupt hinter diesem Tor liegt? Und wollen sie es überhaupt wissen? Die zwölf kleinen Sterne, die so stolz strahlen, bleiben jedoch unbeachtet.

Ja, dieser Koffer lässt mich einen Augenblick lang träumen: von Einheit, Unvoreingenommenheit, Respekt, Orientierung, Partnerschaft und Austausch. Es ist einfach nur ein Gefühl der Freude, wenn ich an das Zusammenkommen verschiedener Kulturen denke. Sie, die unterschiedlichen Kulturen, sind die Sterne der Flagge. Sie kommen zu einem Kreis zusammen, der eine Einheit und Zeitlosigkeit beschreibt. Es gibt keine Ecken oder Kanten und die Mitte ist von allen gleich weit entfernt.

Doch die Menschen sind wie immer blind. Sie eilen von einem Ort zum anderen und reisen um zu sehen, ohne zu verstehen. Sie sehen diesen Aufkleber einfach nicht, der viel mehr ausdrückt, als etwas, das man nur bereisen kann.

Ach, die Leute wollen in kürzester Zeit so vieles erleben; Europa besuchen. Dabei reicht es nicht einfach in einen Zug zu steigen und los zu fahren. Europa ist größer als es scheint. Es ist sehr nah und gleichzeitig so weit entfernt, denn es ist auch in Kopf, Herz und Seele. Der Weg nach Europa beginnt in einem selbst, dann erst am Bahnhof...

Ein Zug bremst und kommt zum Stillstand. Die Türen öffnen sich und ich folge dem Koffer mit dem Aufkleber, der schon fast im Zug verschwunden ist. Auf dem Zug steht in großen Lettern „EUROPA“. Die Verkehrslichter springen auf grün und ich steige ein. Fährst du auch mit?

Josephine Horbank (19), Deutschland


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